Positionen zu Gelingensfaktoren der Ganztagsbetreuung in Baden-Württemberg

... aus Sicht der Jugendverbände

Ab August 2026 werden nach dem Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) zunächst alle Grundschulkinder der ersten Klassenstufe einen Anspruch erhalten, ganztägig gefördert zu werden. Der Anspruch wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet. Damit hat ab August 2029 jedes Grundschulkind der Klassenstufen eins bis vier Anspruch auf ganztägige Betreuung. Der Rechtsanspruch sieht einen Betreuungsumfang von acht Stunden an fünf Werktagen vor. Der Rechtsanspruch soll – bis auf maximal vier Wochen – auch in den Ferien gelten.

Im Zentrum der Gestaltung des Ganztags müssen Kinder und ihr gelingendes Aufwachsen stehen. Der große zeitliche Umfang des Ganztags in Gestalt der Ganztagsbetreuung macht ein qualitätsvolles, vielfältiges und von vielen Akteur*innen getragenes Angebot erforderlich, um den vielseitigen Interessen und Bedarfen von Kindern Rechnung zu tragen. Freiräume, Wahlmöglichkeiten, Pluralität und Selbstbestimmung sind zentrale Eckpfeiler eines Angebots, das Kinderinteressen und -mitbestimmung ins Zentrum rückt.

Dafür müssen die Rahmenbedingungen jetzt geschaffen werden. Die im Landesjugend­ring zusammengeschlossenen Jugendverbände und Jugendringe fordern zur Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetz in Baden-Württemberg:

1. Ganztagsbetreuung bedarf einer Verantwortungsgemeinschaft im Sozialraum!

  • Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind groß zu ziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Dahinter steht die Idee, dass Kinder in einem sozialen Gefüge aufwachsen, sie vielfältige Ansprechpartner*innen brauchen und Kindererziehung nicht nur Eltern und Schule angeht, sondern breit verteilt sein muss. Die Landesverfassung Baden-Württembergs sieht zurecht die Jugendverbände als zentralen Teil des Erziehungssystems (§ 12,2).
  • Vor allem die Organisationen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft müssen die Ganztagsbetreuung gestalten. Es ist eine sozialraumorientierte Umsetzung der Ganztagsbetreuung notwendig, die dem Leitbild einer kommunalen Bildungslandschaft folgt.
  • Vielfalt muss sich auch in der Schule als Teil der Ganztagsbetreuung abbilden. Schule muss sich daher dem Sozialraum öffnen, in Kooperation treten und insbesondere vereinskompatibel werden. Denn die gesellschaftliche Vielfalt ist wertvoll für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen.
  • Sozialraumorientierung macht flexible und unterschiedliche Gestaltung des Ganztags, in Schule wie Betreuung, erforderlich.
  • Schule muss sich für andere Kooperationspartner*innen und ihre Qualitäten öffnen – nicht umgekehrt. Dazu braucht es eine Kooperationsvereinbarung (Rahmenvereinbarung Jugendarbeit und Schule) auf Landesebene, um Kooperationen für Schulen und Jugendverbände sowie weitere zivilgesellschaftliche Akteur*innen einfach zu ermöglichen.

2. Koordination der Angebote ist der Schlüssel für die Ganztagsbetreuung!

  • Im Sozialraum – im Dorf, Quartier oder Stadtteil – finden sich viele Organisationen und Akteur*innen, die zur Ganztagsbetreuung beitragen können. Sie ermöglichen schon jetzt Kindern eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung und Angebote der Alltagsbildung. Diese Vielfalt des Sozialraums für eine verlässliche Ganztagsbetreuung zusammenzubringen, will gut koordiniert sein. Dabei arbeiten Koordinator*innen partnerschaftlich zusammen und sind Brückenbauer*innen.
  • Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Freie Träger sind den öffentlichen Trägern gleichgestellt, beide können daher Träger der Koordinierungsstellen sein. Mit der Koordination der Ganztagsbetreuung durch freie Träger wächst der Verwaltungsaufwand für die Verwaltung oder Schule selbst nicht weiter an.
  • Die Koordination der Ganztagsbetreuung muss die Vielfalt und das Ehrenamt gerade bei starken Einrichtungen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation in den Blick nehmen und integrieren.
  • Jugendringe sind bereits jetzt Akteure gelebter Kooperation in der Kinder- und Jugendarbeit. Ihr Know-how macht sie vor Ort zu idealen Koordinatoren der Ganztagsbetreuung, als die sie allerdings mit den für die Ganztagsbetreuung notwendigen Ressourcen ausgestattet werden müssen.
  • Gute Kooperation und Koordination erfordert in jedem Fall Ressourcen, um wirkungsvoll sein zu können.

3. Ganztagsbetreuung erfordert Qualität!

  • Der Landesjugendring und seine Mitgliedsverbände verfügen mit den Juleica-Standards[i] über Qualitätskriterien für Alltagsbildung und Freizeitgestaltung. Sie bilden neben dem Qualitätsrahmen Ganztagsschule einen Ausgangspunkt, um in der Ganztagsbetreuung Freiräume, Partizipation und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen.
  • Für die Qualität der Ganztagsbetreuung ist die Qualifikation des Personals unerlässlich. Es muss ein Berufsbild für die Ganztagsbetreuung entwickelt werden. Land, Kommunen und Träger von Ganztagsbetreuung müssen Qualifizierungsmaßnahmen vorbereiten und durchführen.

4.Ganztagsbetreuung geht nur mit Fachkräften – hauptamtlich, aber auch ehrenamtlich!

  • Ganztagsbetreuung braucht Verlässlichkeit. Sie funktioniert nur mit ausgebildeten Fachkräften bei angemessener Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen. Es braucht jetzt eine Fachkräfteoffensive, damit 2026 das nötige Personal zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht.
  • Auch qualifizierte ehrenamtliche Jugendleiter*innen sind Fachkräfte der Ganztagsbetreuung. Für sie braucht es eine hauptamtliche Unterstützungsstruktur in den Jugendverbänden und Jugendringen.

5. Ganztagsbetreuung braucht Räume!

  • Ganztagsbetreuung braucht Räumlichkeiten. Ein gelingendes Aufwachsen von Kindern bedarf vieler Orte im Dorf, Quartier oder Stadtteil und vor allem auch im Freien. Für erfolgreiche Ganztagsbetreuung sind Schulgebäude nur ein Ort unter anderen. Es braucht viele außerschulische Lernorte des Alltags.
  • Der Blick auf den bestehenden, lokalen Sozialraum ist wichtig. Die Lebensräume der Kinder und Jugendlichen müssen Ausgangspunkte der Ganztagsbetreuung sein und unmittelbar einbezogen werden.

6. Ganztagsbetreuung verlangt finanzielle Ressourcen!

  • Die Jugendverbände und -ringe und alle weiteren sozialräumlichen Partner werden die Ganztagsbetreuung nur mitgestalten können, wenn sie eine angemessene finanzielle Ausstattung bekommen. Land und Kommunen müssen gemeinsam dafür sorgen! Dabei werden die finanziellen Rahmenbedingungen des § 4a Abs. 4 nicht ausreichen.
  • Die Ausstattung der Ganztagsbetreuung ist nicht vorhanden oder muss dafür ausgestaltet werden – Räume müssen dafür ertüchtigt werden, Personal muss gewonnen und qualifiziert werden und Trägerstrukturen müssen zur Erfüllung der Aufgaben in der Lage sein. Aus Konnexität und Subsidiarität erwächst eine gemeinsame Finanzierungspflicht von Land und Kommunen.
  • Die Ganztagsbetreuung muss schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit kostenfrei sein: es darf keinen Unterschied zwischen kostenpflichtiger Ganztagsbetreuung und kostenloser Ganztagsschule geben.

7. Ferienzeiträume sind für Zeltlager, Freizeiten und Stadtranderholungen der Jugendverbände und Jugendringe reserviert!

  • In den Ferien müssen die Jugenderholungsangebote von Jugendverbänden und Jugendringen die selbstverständliche Form der Ganztagsbetreuung sein. Es darf keine (weitere) Konkurrenz z.B. durch kommerzielle Anbieter aufgebaut werden.
  • Im Zuge der Umsetzung des GaFöG dürfen Ferienangebote nicht zu schulischen Veranstaltungen werden. Der Charakter der Ferien als schulfreie Zeit und das Recht der Kinder auf Spiel, Spaß und Abenteuer müssen bei deren Gestaltung im Vordergrund stehen.
  • Ferienangebote sind als außerschulische Angebote vielfältig und ausreichend, sprich: bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen bzw. auszubauen und in die Umsetzung der Ganztagskonzepte vor Ort zu integrieren.
  • Ferienlager und weitere Betreuungsangebote können als Teil der Ganztagsbetreuung – insbesondere mit Übernachtung – landesweit, bundesweit und im Ausland stattfinden. Die Träger der Angebote sind teilweise landesweit aktiv und die Teilnehmer*innen können aus verschiedenen Schulen aus Baden-Württemberg kommen.
  • Es braucht landeseinheitliche Regelungen zu Schließzeiten der Ganztagsbetreuung.

8. Ganztagsbetreuung ist nicht alles!

  • Nicht alle Kinder werden das Angebot der Ganztagsbetreuung wahrnehmen. Und nach acht Stunden Ganztagsbetreuung ist für sie der Tag noch nicht vorbei. Ebenso werden nicht alle Jugendverbände Teil der gesetzlich normierten Ganztagsbetreuung und ihrer Strukturen werden wollen oder können.
  • Auch in Zukunft sind Aktivitäten, Räume und Gelegenheiten für andere informelle und non-formale Angebote aufrecht zu erhalten. Kinder- und Jugendarbeit muss auch außerhalb der Ganztagsbetreuung zweckfrei und um ihrer selbst willen im Sinne des SGB VIII gefördert werden.

9. Unsere Positionen für den Gesetzgebungsprozess und das Umsetzungsverfahren

  • Die landesrechtlichen Regelungen müssen im Jugendhilferecht auf Landesebene verankert werden. Ganztagsbetreuung gehört nicht ins Schulrecht.
  • Eine zeitnahe Aufnahme des Gesetzgebungsprozesses ist notwendig, da die Zeit zur Ausgestaltung bereits jetzt knapp ist. Dabei braucht es klare Zuständigkeiten, Ab- und Zeitläufe des Gesetzgebungsprozesses, sowie eine Bündelung der verschiedenen entstandenen Arbeits- und Beratungsgremien, um rasch eine Planungssicherheit für die zu entwickelnden Kooperationen gewinnen zu können.
  • In das SchulG ist eine Pflicht zur Kooperation mit Jugendhilfe zu verankern.
  • Das Prinzip der Subsidiarität gilt bei Koordination und Steuerung der Ganztagsbetreuung. Bereits vor Umsetzung des Rechtsanspruchs 2026 sind die Koordinationsstellen zu schaffen, um eine gute Vorbereitung zu ermöglichen.
  • Die Umsetzung muss in Kooperation mit der Jugendhilfe, insbesondere der Kinder und Jugendarbeit erfolgen.
  • Betroffene müssen zu Beteiligten gemacht werden. Hier ist § 41a GemO als Leitgedanke in die Ganztagesbetreuung zu übertragen. Dies gilt im Übrigen auch für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Grundschulen, deren Schüler*innen-Mitbestimmung auf- und ausgebaut werden muss.
  • Zur Erlangung von Planungssicherheit ist eine Bedarfshochrechnung für BW inklusive der Ferien noch im kommenden Doppelhaushalt erforderlich.
  • Erforderliche Trägerzulassung soll niederschwellig in Kooperation mit den Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit ermöglicht werden.

10. Unser Beitrag für die Ausgestaltung der Ganztagsbetreuung

  • Wir wollen anknüpfend an das Konzept „verlässliche Kooperation“ ein Modellprojekt der Kinder- und Jugendarbeit in den Jahren 2023-2024 im Vorgriff zu Umsetzung des GaFöG 2026 mit Unterstützung des Landes durchführen. Dabei soll unser sozialräumlicher Ansatz sichtbar gemacht und die Stärken der Kinder- und Jugendarbeit im Bereich der informellen und non-formalen Alltagsbildung und Freizeitgestaltung eingebracht werden.
  • Wir entwickeln die Grundsätze für gelingende Kooperation und Koordination.

 

Stuttgart, den 12.11.2022

 

[i] Zu den Juleica-Standards:
https://www.ljrbw.de/publikationen/juleica-standards-der-jugendleiterinnen-ausbildung

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